Theater: Theater Drachengasse
Regie, Bühne: Amelie von Godin
Kostüme: Tanja Maderner
Regieassistenz: Carlotta Wachotsch
Schauspieler*innen: Alexander Gerlini, Marie Nadja Haller, Skye MacDonald
Alles fängt mit einem Ende an – der Mittlere (Vater) ruft die in der weiten Theaterwelt verlorene Kleine (Tochter) an und teilt ihr mit, dass der Größte (Großvater) gestorben sei. Damit hebt sich der Vorhang für die Familienbühne, auf der die verschwiegenen Gespenster der Vergangenheit auftreten werden – begrüßt mit einem erstaunten: „Das hast du nie erzählt“, das die ganze Erzählung hindurch nachhallt. Die Kleine lädt uns in ihre stumme und dunkle Heimat ein, über der Krähen wachen und Dungsgestank liegt – sie ist die erste Stimme, die die sprachlose Landschaft in Worte fasst und in Bewegung setzt. Täten das die Männer, müssten sie weinen – und das hieße, keine Männer mehr zu sein. Also schweigen sie.

Die schweizerische Autorin Anaïs Clerc bringt in ihrem Schaustück, das den Jurypreis des Theater Drachengasse im Nachwuchswettbewerb gewonnen hat, ein Thema aufs Tapet, das sich im zeitgenössischen Kulturbetrieb großer Beliebtheit erfreut: zwischengenerationelle Unfähigkeit zum Kommunizieren und der Konflikt des Individuums mit dem kollektiven Charakter der Familie. brennendes Haus bietet den Einblick in drei Generationen und die Motive, die ihre Leben prägen.. Den unterschiedlichen Geschichten liegt dasselbe zugrunde: Der leidenschaftliche Wunsch nach Glück, das „weg weg weg“ liege. Der Mittlere sagt es sogar laut aus, dass man entweder eine Auswege finden oder einfach zu vergessen lernen muss. Damit das Leben funktioniert. Es funktioniert doch nicht. Den Spannungsbogen bilden die wechselnden Sehnsüchte – nach Flucht, nach Ungebundenheit, nach einer besseren, bunteren Welt, in der man das eigene Selbst frei ausleben kann – und die Verpflichtung gegenüber der Familie, dem Fleisch und Blut, aus dem man hervorgegangen ist.
Die wackelnde Stimmung wird vom Bühnenbild (Amelie von Godin) angemessen unterstützt – schiefstehende Tisch und Stühle wirken, als ob sie von unbekannten Schwerkräften zusammengezogen wären. Dennoch ist es kein Hindernis, die ungewöhnliche Konstellation neu zu erforschen – oder vielmehr, sie zum ersten Mal bewusst zu betreten. Am Tisch passiert die ganze familiäre Auseinandersetzung – da erzählen sie sich Geschichten, machen sich gegenseitig heftige Vorwürfe, oft ist es eine Mischung aus beidem: Sie erzählen Geschichten, um jemandem etwas vorzuwerfen. Zwischendurch scheinen sie sich auf kleine Pausen zu einigen, um sich vom Streit zu erholen. Sie lachen herzlich, haken sich unter und seufzen schwärmerisch über gemeinsame Erinnerungen : Oh, so war es… Dann fangen sie wieder zu streiten an und dieselben Sätze, die eine Person vor der Streitpause formuliert hat, werden erneut und unbewusst von einer anderen ausgesprochen, als würde sie tatsächlich etwas mehr als nur Blut verbinden. An diesen Stellen gelingt es der Autorin, die Dynamik von zuhause unfassbar gut wiederzugeben.
Es ist jedoch anstrengend, mit dem Übermaß des Unglücks dieser drei Personen innerhalb 85 Minuten klarzukommen – Vergewaltigungs-, Bandwurms- oder Notgeschichten häufen sich im Expresstempo an, sodass die Erschütterung mit jeder Erzählung ein wenig abnimmt und stattdessen das „Das konnte man voraussehen…“ hervortritt.
Darüber hinaus scheint es, dass die Geschichten der drei doch nicht so gleich sind, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Es lassen sich zwei Flanken identifizieren – auf der einen steht der Größte und auf der anderen der Mittlere samt der Kleinsten. Gewiss hat jede*r eigene Probleme, und jede*r ringt auf seine*ihre Weise mit ihnen. Doch der Weg des Größten unterscheidet sich – er kämpft nicht mit dem Leben, sondern um das Leben.
Der Einwand Meine-Probleme-sind-genau-so-groß-und-wichtig-wie-deine muss hier scheitern. Die Gleichsetzung von diesen zwei ungleichen Ebenen verunglimpft die Vernachlässigung der menschlichen Grundrechte (hier: Hungersnot).
Aber das war die Kleinste, die ihrem Dorf überhaupt eine Stimme verliehen hat. Schließlich ist es der Größte, der verstorben ist, und sie lebt weiter – was macht man mit dieser Bagage? Die Frage regt sie zur Auseinandersetzung mit ihrer Identität an, und im Verlauf der gesamten Aufführung spiegelt ihre Figur die Komplexität dieses Themas wider – bis sie schließlich mit einem Satz eine prägnante Antwort gibt: „Ich bin bei mir“. So quittiert sie das Stück, das gegen Ende generell in eine entstellte, therapeutische Sprache umkippt.
Im Großen und Ganzen ist es eine gelungene Aufführung. Die Schauspieler*innen spielen wunderbar– nicht mehr und nicht weniger dazu. Diese Geschichte hat eine*n berührt, so sehr, dass man das Schweigen durchbrechen möchte. Um mit der Familie zu reden – reden, reden, reden. Damit das Leben irgendwie funktioniert; glücklich funktioniert.
Foto: Barbara Pálffy

