Burgtheater /// 29. März 2025 /// Herr Puntila und sein Knecht Matti
Antú Romero Nunes inszeniert Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti” monumental und visuell (über)reizend: Die Trunkenheit der Mitmenschlichkeit wird zum grellen Bilderrausch, der amüsiert und beinah ansteckt – wären da nicht die fein ausgetüftelten Lücken im Illusionsgefüge.
Der Gutsbesitzer Puntila ist dem Alkohol nicht abgeneigt. Denn das Trinken bewahrt ihn vor Nüchternheitsanfällen, die ihn zum Unmenschen werden lassen, der sich den Gesetzen des Kapitalismus unterwirft und seine Arbeiter bestialisch behandelt. Während Puntila im Rausch lieber die lästigen Geschäfte verdrängt und sich mit seinem Chauffeur Matti verbrüdert, treibt er bei sinkenden Promillewerten trotz Widerwillens seiner Tochter Eva deren Verlobung mit dem farblosen und biederen Attaché Eino Silakka voran. Dass Eva ein Auge auf Matti geworfen hat und die beiden eine Liebesbeziehung vorgaukeln, um die unerwünschte Verlobung mit Eino zu verhindern, sorgt für tragikomische Verwicklungen…
Lautes Muhen ertönt, eine Kuhherde grast friedlich und überzieht die Bühne mit finnischer Landidylle. Aber Moment mal: Das sind ja keine Kühe, das sind nur Menschen, die Kühe spielen! Falls das einen Unterschied macht. Denn in jedem Menschen lässt sich auch ein Tier sehen, wie uns der Gutsbesitzer und Kapitalist Herr Puntila (Bruno Cathomas) lehrt. Besonders dann, wenn man sternhagelnüchtern ist…
Gerade ist Puntila sternhagelvoll und tanzt gehüllt in einen weißen Pelzmantel auf dem Tisch, seinen treuen Begleiter, die Schnapsflasche, in der Hand, erhoben über die Menschen- oder Kuhherde. Das neben der Bühne sitzende Streichquartett kommentiert und untermalt die Bizarrerien Puntilas mal bissig, mal sanft-melancholisch, während der Prolog scharf geschliffene Worte über das Klangpanorama setzt.
Plötzlich meldet sich eine Stimme aus dem Publikum zu Wort: Matti (Julia Windischbauer) marschiert durch die Zuschauerreihen und durchbricht die vierte Wand der Bühne, gekleidet in eine braune Livree, die preußischen Gehorsam erwarten lässt. Doch selbstbewusst und seltsam herrischen Tones stellt sich Matti als Chauffeur Puntilas vor.
Zwischen Kunstgalerie und Spielwarenladen
Herr Puntila gibt sich jovial, denn mit ihm hat es eine eigentümliche Bewandtnis: Wenn er getrunken hat, wird er zum rührseligen Philanthropen, der nicht nur durch die Ausbeutung von Arbeitskräften sein Kapital zu mehren versucht. Puntila möchte die Millionen umschlingen – im nüchternen Zustand betrachtet er diese als Geldmünzen, im Rausch als Menschenleiber. Aktuell ist Puntila betrunken und unterhält sich brüderlich mit Matti. Er bewirtet ihn mit Rindsrücken, der ebenso unsichtbar bleibt wie später die fiktive Zigarette zwischen Mattis Fingern: Kleine V-Effekt-Reminiszenzen, die zu verstehen geben, dass wir es hier mit Brecht’schem Theater zu tun haben – für alle, die es noch nicht gemerkt haben.
Verfremdung gibt es zwar in Hülle und Fülle: Gesangs- und Tanzeinlagen, gesprochene Regieanweisungen und Reinigungsarbeiten auf der Bühne überlappen simultan mit dem Hauptgeschehen, hyperbolisches bis hysterisches Schauspiel wird von einer immer wieder aus der Rolle fallenden Eva (Marie-Luise Stockinger) in Reinform zum Besten gegeben, es piepst laut, wenn Puntila seine Hebebühne steuert, mit welcher er immer wieder über die Bühne fährt (zum hörbaren Amüsement des Publikums). Doch das aufwendige Bühnenbild (Matthias Koch) greift die Idee des barocken Kulissentheaters auf: Ein bemalter Bühnenprospekt jagt den nächsten, sodass eine breite Palette kräftiger Farben das Auge unterhält – von modernen bis impressionistischen Stilrichtungen, von motivischer bis abstrakter Darstellung reicht das Bildinventar. Diese optische Opulenz ist durchaus beeindruckend, aber lenkt an einigen Stellen zu sehr von der enormen schauspielerischen Kraft der Akteure ab. Etwas mehr Minimalismus hätte der Inszenierung gutgetan. Auch viele der vorhandenen Requisiten scheinen wie das Ergebnis eines Großeinkaufs im Spielwarenladen: Pink lackierte Hexenhäuschen oder das bemannte Miniaturauto Puntilas, mit dem er gegen einen Pfahl kracht – das Theater wird sekundenlang zum Actionfilm –, sorgen zwar für Unterhaltung und ironische Immersionsbrechung, aber sind eine Nummer zu grell aufgetragen.
Um nicht von der Masse an Requisiten und Statisten auf der Bühne erdrückt werden, nehmen die Akteure in der Vertikalen Reißaus: Puntila besteigt wiederholt Tisch, Treppe oder Hebebühne, wodurch das Machtgefälle zwischen ihm und den anderen augenfällig wird: Der reiche Kapitalist erhebt sich buchstäblich über die arme Dorfbevölkerung und behandelt seine Tochter sowie seine Bediensteten von oben herab. Dabei bleibt es allerdings nicht: Als Puntila nach Hause kommt und Alkohol verlangt, lässt Tochter Eva seinen schnapsgefüllten Koffer wegbringen und schreit den Vater aus Leibeskräften an. Da hilft nicht einmal das flehentliche Niederknien des Puntilas: Die um mehrere Treppenstufen erhöhte Eva ist für ihren Vater unerreichbar.
Die Inszenierung lebt davon, Einfälle zu etablieren, um sie später ironisch zu hintertreiben. So bleibt die Parallelisierung der vertikalen Positionen und der hierarchischen Gesellschaftsstrukturen nicht starr: Als der sternhagelnüchterne Puntila seine drei im Rausch eingeladenen Verlobten wieder zu vertreiben versucht und diese sich einfach kollektiv auf den Boden seines Gutes setzen, wirkt Puntila oben in der luftigen Höhe der Hebebühne wie ein hilfloser Clown. Puntila ist auf den Gehorsam seiner Untertanen angewiesen – streikten sie, wäre er nicht überlebensfähig.

Mit Leidenschaft in der Rolle
Im Verlauf des Abends offenbarte sich Tilman Tuppy – in seinen Rollen als Schmuggleremma, der Kümmerliche und die Pröpstin – als ein wahrer Virtuose der feinsinnigen Provokation. Es sind vor allem jene mit beständiger Präzision eingestreuten Randbemerkungen, die er mit raffinierter Zurückhaltung platziert, sowie seine ausdrucksstarke, körperbetonte Spielweise, die eine außergewöhnliche, komödiantische Wirkung entfalten. Ob er sich behutsam an Puntila herantastet, jodelnd das alpine Idiom beschwört oder sich der Wissenschaft der Zwiebel widmet – ein Schmunzeln wird zur unausweichlichen Reaktion des Publikums. Nicht minder beeindruckt Marie-Luise Stockinger als Eva mit einer vielseitigen Darstellung, die in der Dynamik mit dem komplexen Matti und dem bipolaren Puntila ihre volle Strahlkraft entfaltet. Mit feinsinnigem Gespür scheint sie mancherorts gar Puntilas innere Widersprüche zu spiegeln. Matti ist jedes Mal wieder dazu fähig, die Gedanken auf die subtilen Botschaften des Stückes zu lenken und verleiht der Inszenierung eine zusätzliche inhaltliche Tiefe. Besondere Erwähnung verdient schließlich Lola Klamroths außergewöhnliches Spiel in den Rollen des Kuhmädchens, der Fina, der Rothaarigen und der Advokatin. Insbesondere ihre physisch nuancierte Verkörperung eines „Bros”, dessen nervös zuckende Bewegungen eine Mischung aus Unbehagen und Komik erzeugen, brennt sich unweigerlich ins Gedächtnis ein.

„Willkommen, Hering, du Belag des armen Volkes!”
Nach der Pause trifft alles zusammen, was bisher mitunter nur angedeutet wurde. Facettenreich blühen die Einzelcharaktere in ihren Ambivalenzen auf. Der zunehmend alkoholisierte Puntila jagt den gänzlich humorlosen Attaché aus dem Haus, um seine Tochter nun mit Matti zu verloben. Ganz eins fühlt er sich mit den Sorgen und Nöten der Arbeiterschaft und solidarisiert sich mit seinem Chauffeur Matti. Dieser wiederum nimmt einem Wechselspiel gleich das Ruder in die Hand. Von oben herab prüft er seine Zukünftige, ob sie dem hartgesottenen Dasein eines einfachen Arbeiters überhaupt gewachsen ist.
Fast lassen sich diese Prüfungen als antiemanzipatorische Anleitung verstehen. Frappierend sind die Parallelen zu den Dramen der wohl wichtigsten und klarsten Realistin der finnischen Literatur, Minna Canth, die mit ihrem Entrüstungsrealismus das Bild des gewalttätigen, trunk- und herrschsüchtigen Ehemanns prägte. Die einst dominante und augenscheinlich selbstständige Eva fügt sich der Rolle der devoten, leidgeplagten Hausfrau und wird beim Sockenstopfen und Umsorgen ihres Mannes durch naive Mitstreiterinnen unterstützt. Eva scheitert an dieser neuen Rolle und muss einsehen, dass auch eine Verlobung mit Matti keine Perspektive für sie darstellt.
So kulminieren nicht nur die Kontroversen der Charaktere, sondern in überspitzter Form zudem wichtige kulturgeschichtliche Motive Finnlands. Eng angelehnt an Leonardo da Vincis Das letzte Abendmahl sitzen alle Gäste der Verlobungsfeier an einer langen Tafel. Zwölf Anwesende verfolgen jüngerhaft die feierlich-okkulte Beschwörung eines anstelle von Brot und Wein emporgehobenen Salzherings durch Matti – das einzige Gericht des Abends. Dieser einfache Fisch könnte die soziale Kluft zwischen den Reichen und den Arbeitern oder – im historischen Finnland – den Graben zwischen Weißen und Roten symbolisieren. Dass gerade Matti es ist, der im Mittelpunkt sitzt und die Rolle Christi einnimmt, unterstreicht den vorübergehenden Rollentausch – die Arbeiterklasse steht hier im Zentrum. Doch als Puntila den einzigen Hering schließlich zustimmend in sich hineinschiebt, wird klar: Die neue Ordnung ist nur von kurzer Dauer.

„Das Volksstück ist für gewöhnlich krudes und anspruchsloses Theater.”
Brechts Stück erfreute sich bereits zur Premiere am Zürcher Schauspielhaus 1948 großer Publikumsbeliebtheit. Brecht war aus zunächst finnischem, später amerikanischem Exil nach Mitteleuropa zurückgekehrt. Das Burgtheater macht derweil gut, was vorangegangene Inszenierungen versäumten: Brechts Werk ging aus einem Theaterstück der finnischen Dichterin Hella Wuolijoki hervor (Sahanpuruprinsessa, dt. Sägemehlprinzessin), auf deren Landgut er 1940/1941 weilte. In Finnland ist dies allgemein bekannt. Deutschsprachige und internationale Inszenierungen unterschlugen die finnische Beteiligung oft.
Brecht selbst spricht von einem Volksstück: kleine Sentimentalitäten, sexuelle Anspielungen und einseitige Stereotype. All das vermag auch die Inszenierung am Burgtheater auf die Bühne zu bringen. Stellenweise haben halbgare Gebärden den Anschein, als sei man nicht in Wien, sondern säße einem volkstümlichen finnischen Sommertheater (kesäteatteri) mit seinen mal derben, mal drögen Späßen gegenüber: In billigen Anspielungen unter der Gürtellinie wird Buttermilch ausgeschenkt oder eine Kalauer-Schlacht ausgefochten. Dieser Eindruck, der ländliche Schauplatz sowie die für Brecht ungewöhnliche Perspektive auf die Gesellschaft können zum Teil auf Wuolijoki Beteiligung zurückgeführt werden.
Erweckt der Trailer zur Wiener Inszenierung mit einer Auflistung von Orten und Personen des Schauspiels in fast finnischer Intonation den Eindruck, man sei um das sprachlich-inhaltliche Erbe des Stückes bemüht, enttäuscht das auf der Bühne Dargebotene aus philologischer Sicht. Nie ist man sicher, ob eine dezidiert finnische Aussprache Regieanweisung oder spontaner Sprachunfall ist: Aus Surkkala wird Schurkala und Einos Name wird in deutscher Lesung zum weiblichen Pendant Aino. An anderen Stellen ist die sprachliche Ebene gründlicher mitbedacht worden. So gibt der Kontrast von Evas episodischem Wienerisch und Mattis volkssprachlich anmutendem Hochdeutsch akustisch eine Vorstellung der Kluft, welche beide Figuren voneinander trennt.
Das Kopfkino des Säufers
Das Finale überrascht mit einem besonders gelungenen visuellen Effekt: Während der mehr als sternhagelvolle Puntila weltentrückt einen imaginären Berg besteigt, den Matti ihm aus drei Büchern aufschichtete und verzückt das Lokalkolorit der finnischen Landschaft anpreist, ohne dabei seine Bibliothek zu verlassen, setzt sich der schwarzweiße Bühnenprospekt in Bewegung und sinkt herab. Wie in einem Film folgen von oben farbige Natur- und Tierbilder nach, die immer weiter ins Phantastische abdriften. Die Imagination des Berauschten wird Teil der Bühnenwelt und die letzten Restbestände Illusionstheater splittern. Bis zum Filmriss.
Die Lust auf Aquavit, Hering oder Buttermilch ist wohl jedem nach knapp drei Stunden Brecht vergangen. Aber bei aller Desillusionierung: Sternhagelnüchtern ist man nach diesem üppigen Theaterfest sowieso nicht mehr.
HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI von Bertolt Brecht
Regie: Antú Romero Nunes | Bühne: Matthias Koch | Kostüme: Helen Stein, Magdalena Schön | Musik: Pablo Chemor | Musikalische Mitarbeit: Anna Bauer | Lichtdesign: Marcus Loran | Dramaturgie: Lena Wontorra
Mehr Informationen unter Herr Puntila und sein Knecht Matti – Burgtheater Wien
Fotos: © Tommy Hetzel