Molières „Tartuffe“ ist mehr als ein klassisches Theaterstück – es ist eine pointierte Satire über gesellschaftliche Blindheit, die bis heute nichts von ihrer Brisanz verloren hat. In einer modernen Inszenierung von Barbara Frey wird das Stück auf faszinierende Weise neu interpretiert und lädt das Publikum des Burgtheaters dazu ein, über Manipulation und Selbsttäuschung nachzudenken.
„Tartuffe“ ist eine Charakterkomödie, die die Heuchelei und die Absurditäten des barocken Frankreichs entlarvt. Dazu erzählt Molière die Geschichte der wohlhabenden, aber ebenso leichtgläubigen Familie Orgon. Gerade ihre Verblendung und ihr Vertrauen bilden die Grundlage für ihren tragikomischen Untergang und führen zum völligen sozialen und materiellen Abstieg des mittellosen Tartuffe.

Die Bühne ist dunkel. Der Komponist Josh Sneesby spielt Klavier und begrüßt damit die ersten Figuren, die sie betreten. Die Live-Musik dient als ausdrucksstarkes Element, das zu einer Atmosphäre wachsender Spannung beiträgt und das Publikum auf das dramatische Geschehen einstimmt. Das Bühnenbild von Martin Zehetgruber ist eine moderne, minimalistische Interpretation eines französischen Adelssitzes und vermittelt den Zuschauer:innen ein klares Gefühl für die räumliche Orientierung: Eine halbtransparente Glaswand im Hintergrund visualisiert die Grenzen des familiären Raumes, während die Tropfen, die von der Wand fallen, den Zerfall und das unvermeidliche Chaos symbolisieren, das nach Tartuffes Auftauchen entstehen.
Ein interessantes Element in Barbara Freys Inszenierung ist die Umkehrung der Geschlechterrollen, welche der Interpretation der Figuren zusätzliche Komplexität verleiht. Tartuffe selbst wird von der deutschen Schauspielerin Bibiana Beglau gespielt, wodurch die Figur eine besondere Geschmeidigkeit und Eleganz erhält.

Im Laufe der Handlung wendet sich Orgons Familie gegen seine Freundschaft mit Tartuffe. Dennoch will er ihn mit seiner Tochter verheiraten und überschreibt ihm sein gesamtes Vermögen. Die wahren Absichten seines vermeintlichen Freundes erkennt er erst, als seine Frau ihn überredet, sich unter dem Tisch zu verstecken, um Tartuffes Verführungsversuch mit eigenen Augen zu sehen. Die Darstellung von Michael Maertens ermöglicht es dem Publikum, Orgons Gefühlswelt mitzuerleben und den Verrat Tartuffes nachzuempfinden, der vor allem durch seine Gestik und seine gesteigerte Stimmlage unterstrichen wird. Auch die Bühnenbeleuchtung von Reinhard Traub verleiht der Szene zusätzliche Dramatik, indem sie die Helligkeit der Scheinwerfer abrupt verändert oder schnell auf einen bestimmten Punkt fokussiert. Lichtkontraste, die bestimmte Gesichtszüge der Figuren verzerren und gleichzeitig die räumliche Wirkung der Bühne verstärken, spielen in dieser Inszenierung generell eine entscheidende Rolle.

Ein charakteristisches Merkmal der Werke Molières ist der starke Einfluss der Dienerschaft auf das Leben der adligen Familie. Sie ist nicht nur passive Zuhörerin des Geschehens, sondern versucht aktiv, die Entscheidungen des Familienoberhauptes zu beeinflussen. In dieser Inszenierung wird dies besonders durch präzise choreografierte Bewegungsabläufe und pointierte Dialoge hervorgehoben. Die Diener:innen agieren als Kommentatoren des Geschehens, wodurch ihre Rolle als treibende Kraft der Handlung betont wird. Dennoch ist die Wendung der Geschichte unausweichlich: Tartuffe vertreibt alle aus dem Haus, das er sich inzwischen angeeignet hat.
„Tartuffe“ und seine moderne Inszenierung verkörpern die Leichtgläubigkeit der Gesellschaft und die Manipulierbarkeit des Menschen. Das Motiv der Selbsttäuschung und der Verführbarkeit des Individuums bleibt schmerzlich aktuell – auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene. Die Interpretation des Stücks von Barbara Frey unterstreicht dies durch eine klare ästhetische Gestaltung, eine nuancierte Schauspielkunst und gezielte Licht- und Raumwirkungen, die die Dynamik der Figurenbeziehungen hervorheben.
DER TARTUFFE von Molière
Mit: Bibiana Beglau, Michael Maertens, Ines Marie Westernströer, Sarah Viktoria Frick, Katharina Lorenz, Markus Scheumann, Maria Happel, Barbara Petritsch, Justus Maier
Regie: Barbara Frey | Bühne: Martin Zehetgruber | Kostüme: Esther Geremus | Musik: Barbara Frey, Josh Sneesby | Licht: Reinhard Traub | Dramaturgie: Lena Wontorra
Fotos: © Tommy Hetzel