Akademietheater /// 9. Mai 2025 /// Die Vegetarierin
Die deutschsprachige Erstaufführung des Romans “Die Vegetarierin” der frisch gekürten Nobelpreisträgerin Han Kang (Deutsch von Ki-Hyang Lee) ist alles andere als leicht verdaulich. Die Inszenierung von Marie Schleef nimmt mit auf eine rasante Auseinandersetzung über radikale (Selbst-)Verweigerung, und zwar ausschließlich in Slow-Motion. Dabei wird viel abverlangt – nicht nur dem brillierenden Ensemble, sondern auch dem Publikum.
Yong-Hye (Kotti Yun) lebt ein ganz normales Leben einer ganz normalen Südkoreanerin an der Seite eines ganz durchschnittlichen Ehemanns (Ernest Allan Hausmann), bis sie beschließt, sich fortan vegetarisch zu ernähren. Diese Entscheidung wird von niemandem ihrer Angehörigen akzeptiert. Der Vegetarismus erlöst Yong-Hye zwar nicht wie erhofft von ihren schrecklichen Alpträumen, doch erweist er sich als ein Weg zu der Selbstbestimmtheit, die ihr sonst verwehrt bleibt. Ihr Umfeld – allen voran Ehemann und Vater (Hans Dieter Knebel) – begegnen ihrer Ernährungsumstellung mit Unverständnis.
Aushalten!
Der Geduldsfaden des Publikums wird von Beginn an auf die Probe gestellt: Aushalten können muss man den Anblick der durch die Verpackung in Frischhaltefolie mumifizierten Tierkörper, die Yong-Hye in quälender Langsamkeit über die Bühne schleift, durch ein Nebelmeer, das dem Alptraum der Protagonistin entstammen könnte. Aushalten können muss man die – leider oftmals asynchron zur Bewegung einsetzende – Begleitung eines in seiner surrealistischen Lautstärke nervenaufreibenden Soundtracks aus Reibegeräuschen, die wohl an das Knirschen von Eis in dem imaginären Tiefkühlregal erinnern sollen: die Quelle für die sich anhäufenden Fleischmengen. Aushalten können muss man die Längen der fast durchgängigen Slow-Motion-Inszenierung, und die Spärlichkeit von Dialogen im ganzen Stück.
Dabei geht es weniger um die verbale Interaktion als vielmehr darum, all das Nichtgesagte zu visualisieren. Eine Idee, die im ersten Teil des Abends noch am ehesten überzeugt: Die zerrütteten Ehe- und Familienverhältnisse von Yong-Hye zeigen sich gerade durch das Fehlen von gelingender Kommunikation. Yong-Hye meidet Blickkontakt und Begegnung auf Augenhöhe, sie versinkt lieber in der Betrachtung der herbeibeförderten Folienpakete in Fleisch-, Reh- und schließlich Menschenform – ein herrlich-groteskes Bühnenbild (Bühne: Lina Oanh Nguyễn). Die direkte Konfrontation mit dem Vater erfolgt nur, um die Tochter gewaltsam zum Fleischessen zu zwingen und führt zu deren psychischen wie körperlichen Zusammenbruch, doch ohne ihren Widerstand aufzugeben (Ich will nicht!): Yong-Hye liegt verletzt und am Boden zerstört in Embryonalstellung auf dem Boden zwischen den Fleischresten; die Flucht vor der Macht des Patriarchats gelingt ihr nur durch Wegducken und Abtauchen in ihre eigene Traumwelt. Ihr Vegetarismus ist eine Reaktion auf die Traumata, welche ihr angetan wurden. Sie hat ein “schreckliches Gefühl” in sich, “lauwarm, wie Blut vor dem Erkalten”. Doch der Verzicht auf Fleisch bringt es auch nicht zum Verschwinden.

Nacktheit ohne Nähe
Im zweiten Teil der Inszenierung wird es körperlicher und gleichzeitig deutlich verstörender: von gesellschaftlicher Enge zur körperlichen Entgrenzung, von verbaler Gewalt zur stillen Auflösung des Selbst. Und dabei knistert es. Nicht im erotischen, sondern im existenziellen Sinn.
Drei Menschen entkleiden sich vollständig und ein Video wird aufgenommen, das an einen pornografischen Akt erinnert, jedoch seltsam distanziert bleibt. Die Intimität wirkt inszeniert, beinahe künstlich steril. Im Mittelpunkt stehen Yong-Hye, J. (Jonas Hackmann), ein Kollege ihres Schwagers und ihr Schwager selbst (Philipp Hauß), der Videokünstler, der zwischen künstlerischem Anspruch und persönlicher Obsession agiert – eine Figur, die bewusst Unbehagen erzeugt. Was als Kunstprojekt beginnt, kippt bald in eine verstörende Form der Objektivierung. Einige Zuschauer*innen reagieren mit Irritation, manche verlassen sogar den Saal. Die Inszenierung provoziert bewusst, aber auch wirkungsvoll?
Auf der Bühne stehen verschiedene Bildschirme. Doch diese zeigen keineswegs den eigentlichen Akt, sondern entfremdete Videos. Die Bilder sind ästhetisch reizvoll, aber in ihrer Bedeutung oft schwer greifbar. Statt Klarheit entsteht ein Gefühl der Entkoppelung, passend zum Zustand der Hauptfigur, die sich immer weiter aus der menschlichen Welt zurückzieht. Diese Entfremdung ist spürbar gewollt. Yong-Hye verweigert Sprache, Sexualität, gesellschaftliche Rollen und mit der Zeit auch ihr eigenes Subjektsein. Der Kontrast zwischen dem entblößten Körper und der inneren Abwesenheit macht die Szene äußerst unbequem. Yong-Hye möchte sich auflösen und eins werden mit der Pflanzenwelt, mit der Stille. Ihre Passivität wirkt nicht ohnmächtig, sondern entschieden. Für das Publikum ist das schwer auszuhalten. Denn obwohl (oder gerade weil) die Inszenierung visuell so kontrolliert wirkt, bleibt vieles emotional unzugänglich.
Der zweite Teil spiegelt zentrale Themen der Vorlage: Körperpolitik, Autonomie, die Verschiebung von Begehren und Gewalt. Und doch stellt sich die Frage, ob die Mittel der Inszenierung immer die nötige Vielschichtigkeit erzeugen. Manches wirkt ästhetisch überformt, etwa der Umgang mit Nacktheit oder das Piepen im Hintergrund während der gesamten Szene. Die Radikalität des Stoffes ist da (Entkörperlichung!), aber sie verliert sich stellenweise in stilistischer Zurückhaltung. Unterm Strich bleibt ein widersprüchlicher Eindruck: Die Szene ist intensiv, beklemmend und fordernd. Sie wirft wichtige Fragen auf, und lässt bewusst vieles offen. Doch gerade weil sie sich der Eindeutigkeit entzieht, fordert sie ein Publikum, das bereit ist, diese Leerstelle auszuhalten.

Menschsein – Pflanzensein
Der dritte und letzte Teil der Inszenierung beginnt mit dem wohl stärksten Bild des Abends: Die Bühne bietet mit saftigen Grüntönen ein Bild der Ruhe und Naturidylle, mit Waldgeräuschen unterlegt zeigt sich ein scheinbar vollkommen friedlicher Ort. Doch: In der Bühnenmitte – ganz in weiß gekleidet Yong-Hye. Die Hände stützend am Boden, während der Körper senkrecht in die Höhe zeigt. Wessen Welt steht hier Kopf?
Wie sich herausstellt, befindet sich Yong-Hye befindet in psychiatrischer Behandlung, wo sie von ihrer Schwester In-Hye (Alexandra Henkel) besucht wird. Ihre Bitte: Sie solle doch zumindest ein paar Stück Wassermelone essen. Doch die in einem durchsichtigen, wiederverschließbaren Plastikbeutel mitgebrachte Nahrung bleibt unberührt. Sie wirkt auf der Bühne beinahe wie ein Fremdkörper.
Yong-Hye weigert sich ein letztes Mal, denn: Sie sei nahe am Pflanzensein dran, brauche nur noch Sonne, um zu leben. Als In-Hye schließlich dem Vorschlag des medizinischen Personals zustimmt, Yong-Hye zwangszuernähren, beginnt die wohl grausamste Szene des Abends. Hatte man bis zu diesem Zeitpunkt eher Unverständnis für die Protagonistin, kam einem ihr Verhalten überzogen oder absurd vor, so werden die Sympathien auf den letzten Metern der Inszenierung umgelenkt – nicht zuletzt durch die großartige Schauspielleistung von Kotti Yun und Alexandra Henkel.
Yong-Hye wehrt sich gegen die Fremdbestimmung ihres Körper, wehrt sich unter Schreien, wimmert und windet sich. Nicht nur die Schwester ändert ihre Meinung, sondern auch das Publikum wird teilweise umgestimmt. Die Inszenierung hütet sich davor, das Spannungsfeld zwischen Selbstautonomie und Selbstzerstörung auszuerzählen – und als der Vorhang fällt, bleibt vor allem eines zurück: Ein flaues Gefühl im Magen.
Das Ensemble erntet (zurecht!) Applaus, und verbeugt sich zum Abschied – natürlich – in Zeitlupe.

© Christoph Liebentritt
Verweigerung auf hohem Niveau?
Die Darstellung der “Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens” in Han Kangs Prosa wurde für nobelpreiswürdig befunden. Die überaus fragilen Romanszenen bedürfen einer subtilen, komplexen Inszenierung, um die Zartheit zu vermitteln, mit der Han Kang über menschliche Grausamkeit erzählt. Dieser Herausforderung wird am Akademietheater gekonnt durch ein hohes Maß an Langsamkeit und Leerstellen begegnet, bis jedoch die Redundanz im Laufe des Abends schwerfällig zu werden beginnt. Das “Ich will nicht!” der Protagonistin wird durchdekliniert, und die Verweigerung von Fleisch zur persönlichen Tragödie – welche gesellschaftspolitische Dimension sie hat, bleibt wohl den Zuseher*innen überlassen.
DIE VEGETARIERIN von Han Kang (Deutsch von Ki-Hyang Lee) Regie: Marie Schleef | Bühne: Lina Oanh Nguyễn | Kostüme: Ji Hyung Nam Sounddesign: Christoph Mateka | Video: Lillian Canright | Licht: Marcus Loran | Dramaturgie: Sarah Lorenz
Mehr Informationen unter Die Vegetarierin
Fotos: © Christoph Liebentritt