MusikTheater an der Wien /// 6. Mai 2025 /// Ambleto
Ein kleines Haus mit Ess-, Schlaf- und Badezimmer sowie einer großen Terrasse: Braucht es noch mehr zum trauten Familienglück? Womöglich. Denn im Musiktheater an der Wien stellt dieses Ensemble die Szenerie für den Familienwahnsinn einer blutgeschwängerten Version des Hamlet.
Das Theater an der Wien tat sich immer wieder mit Außenseitern, Exoten und Kuriositäten im Spielplan abseits des etablierten Musiktheaterkanons hervor, die gewagt, doch kreativ inszeniert werden – so auch diesmal. Nun wird das barocke dramma per musica Ambleto aus der kompositorischen Feder Francesco Gasparinis (1661–1727) zusammen mit einem Libretto von Apostolo Zeno (1668–1750) und Pietro Pariati (1665–1733) musikalisch brillant und dramaturgisch mal mehr mal weniger gelungen ins Heute transformiert auf die Bühne gebracht. Die Besonderheit des Stückes: Shakespeares Hamlet war zur Uraufführung der opera seria 1706 in Venedig durchaus schon publiziert, doch in Italien weitgehend unbekannt, sodass Zeno und Pariati das Original – die Chroniken des dänischen Geistlichen Saxo Grammaticus – als Inspirationsquelle verwendeten. So wurde Ambleto die erste Oper überhaupt, die diesen Stoff vertonte. Ganz unabhängig von Shakespeare.
Die italienische Version des Hamlet-Stoffs gestaltet sich eigentlich weniger dramatisch als der starke Tobak Shakespeares: kein endloses Blutvergießen, kein väterlicher Geist, kein Inzest, und am Ende nur ein zum Tode verurteilter Onkel Claudius anstatt eines Blutbads aller Beteiligten. Doch an genau dieser Stelle entreißt die Regie (Ilaria Lanzino) dem Ambleto seine Alleinstellungsmerkmale und dramatisiert das hinzu, was zu fehlen scheint: ein geisterhafter Vater, eine Vergewaltigung, gar ein Amoklauf gegen gänzlich Unbeteiligte und kein Schauspieler, der am Ende ohne Blut in der Visage hinter dem letzten Vorhang verschwindet.

Die Modernisierung des Stoffes zu einem zeitgenössischen Familiendrama hat durchaus seinen Reiz. Es dauert etwas, bis das modische und mit Liebe zum Detail ausgestattete Bühnenbild (Martin Hickmann) im Japandi-Style mit der hochbarocken Musik auf historischen Instrumenten zusammenwächst. Doch dieser Balanceakt gelingt; auch durch die zeitlose Garderobe (Vanessa Rust) und schauspielerisches Können. Bis dieses Gleichgewicht von Musik und Bühne jäh und immer wieder aufs neue zerrissen wird. Denn Gasparinis Ambleto ist nur fragmentarisch überliefert: Die Rezitative, als die eigentlichen inhaltlichen Handlungstreiber, sind nurmehr textlich nachweisbar. Die Musik fehlt.
Diese Lücken werden im MusikTheater an der Wien nicht mit Nachkompositionen, sondern mit deutsch eingelesenen Texten einer lässigen Übertragung von Shakespeares Hamlet gefüllt, Zwischentiteln eines altbackenen Stummfilms gleich. Einmal mehr wird Ambleto seiner Eigenständigkeit beraubt, massentauglich mit «Sein oder nicht sein» garniert. Lediglich ein einziges auskomponiertes und nicht effektheischerisch, subsonisch klangcollagiertes Rezitativ (Rupert Derschmidt) zeigt, was hätte sein können.

Dabei hätte es diesen Kunstgriff nicht gebraucht. Die Arien allein, das Bühnenbild und vor allen Dingen die Sängerinnen und Sänger sprechen eine starke – auch bildliche – Sprache. Die bereits zeitgenössisch mit dem Kastraten Nicolò Grimaldi starbesetzte Hauptrolle des Hamlet (Raffaele Pe) glänzt auch in dieser Inszenierung gesanglich wie darstellerisch. Pe führt nicht nur als wahnsinniger Hamlet alle Handlungsstränge auf, sondern als musikalischer Leiter auch hinter der Bühne zusammen. Daneben bringen auch Gertrude (Ana Maria Labin), Ophelia (Erika Baikoff) sowie Claudius (Miklós Sebestyén) und Polonius (Nikolay Borchev) eindrückliche Partien dar – wenngleich der virtuose Mikrokosmos barocker Verzierungen zeitweise im überzogenen Vibrato der beiden Damenstimmen verschwimmt.
Stimme und Rolle des Abends ist jedoch die des Laertes (Maayan Licht), der mit seiner spritzigen, zum Teil komischen und immer authentischen Art bereits zu Beginn des ersten Akts spontanen Applaus erhält.
Ein großer Gewinn der Inszenierung ist zudem das Ensemble La Lira di Orfeo, welches durchaus zeittypisch mit einer Konzertmeisterin (Elisa Citterio) am Dirigentenpult auf hohem musikalischem Niveau und mit viel Anmut den roten Klangteppich für die Sängerinnen und Sänger bereitet. Dynamik und Flexibilität im Zusammenspiel mit den Solisten, auch in Duett- oder Terzett-Formationen, lassen das Stück zu einem hochkarätigen Musikgenuss werden.

Während die Arien im Verlauf des Abends immer emotionaler und inbrünstiger werden, löst sich im Hintergrund das anfängliche Familienglück buchstäblich in Luft auf: Das Einfamilienhaus verliert Wände, Interieur, und Verkleidung. Die Substanz der Kulisse bröckelt, bis am Ende das blutverschmierte, schwarze Gerüst von Hamlets einstiger „Gruselvilla“ bleibt. Nachdem Hamlet in seinem Wahnsinn – das zentrale Motiv dieser Inszenierung – alle dahinraffte, bleiben nurmehr Dunkelheit und ein fast stimmloses letztes Duett Gertrudes und Ophelias.
Mag die Musik von Gasparini sein, bleibt vom Libretto Zenos und Pariatis indes nicht viel. So muss wohl dezidiert von einem Wiener Ambleto gesprochen werden. Die Modernisierung dieser kompilierten Neuschöpfung auf der Bühne – nicht im Orchestergraben – hat durchaus das Potential, einen unterhaltsamen Abend zu bereiten, wenngleich der Inhalt des Werks am Anfang und Ende zu einer Gewaltorgie verroht. Das Publikum zollt langen und tosenden Applaus.
AMBLETO von Francesco Gasparini, mit einem Libretto von Apostolo Zeno und Pietro Pariati
Regie: Ilaria Lanzino | Musikalische Leitung: Raffaele Pe | Konzertmeisterin: Elisa Citterio | Bühne: Martin Hickmann | Kostüm: Vanessa Rust | Licht: Anselm Fischer | Klangregie: Rupert Derschmidt | Dramaturgie: Christian Schröder | Hamlet: Raffaele Pe | Claudius: Miklós Sebestyén | Getrude: Ana Maria Labin | Ophelia: Erika Baikoff | Polonius: Nikolay Borchev | Laertes: Maayan Licht | Musik: La Lira di Orfeo
Mehr Informationen unter Ambleto – MusikTheater an der Wien
Nächste Aufführungen: 8., 10., 12., 14. und 17. Mai 2025.