Ballet /// 8. April 2025 /// Tetro alla Scala
Mit Peer Gynt bringt das Teatro alla Scala einen Stoff auf die Bühne, der in seiner Vielschichtigkeit schwer zu fassen ist – halb Traum, halb Tragödie. Der norwegische Volksmythos, durch Henrik Ibsens dramatisches Gedicht und Edvard Griegs weltberühmte Bühnenmusik geprägt, wird in dieser Produktion als Ballett neu gedacht. Und es ist gerade die Sprache des Tanzes, die Peer Gynts rastlose Suche nach Identität, Sinn und Heimat mit ungeheurer Intensität erfahrbar macht.
Die Choreografie stammt von Edward Clug, der mit dieser Neufassung ein Werk geschaffen hat, das zwischen narrativer Klarheit und symbolischer Abstraktion balanciert. Statt einer linearen Nacherzählung erleben wir die Stationen von Peers Leben wie Bruchstücke eines zerrissenen Bewusstseins – assoziativ, bildgewaltig, oft verstörend. Clug nutzt die Körpersprache der Tänzer:innen, um psychologische Zustände zu offenbaren, die im Text oft nur angedeutet bleiben.
Inszenierung
Die Musik stammt nicht ausschließlich aus Griegs berühmter Peer-Gynt-Suite, sondern wurde ergänzt durch weniger bekannte Orchesterstücke und Bearbeitungen, was dem Abend eine dramaturgische Weite und musikalische Tiefe verleiht. Das Orchester der Scala bewältigt diese Vielfalt souverän: lyrisch, präzise und voller Klangfarben, die die emotionale Reise des Protagonisten unterstützen, ohne je bloß illustrativ zu wirken.
Die Bühne, entworfen von Marko Japelj, ist wandelbar: Eine riesige, nebelverhangene Landschaft, durchbrochen von verschiebbaren Elementen, die Traum, Erinnerung und Realität ineinanderfließen lassen. Licht (von Tomaž Premzl) und Projektionen werden gezielt eingesetzt, um innere Zustände visuell greifbar zu machen – etwa wenn Peer in der Halle des Bergkönigs dem eigenen Wahnsinn begegnet.

In der Titelrolle überzeugt der erste Solist Timofej Andrijashenko mit einer eindrucksvollen Darstellung. Er tanzt Peer nicht als glatten Verführer, sondern als komplexen Antihelden: stolz, verletzlich, verzweifelt. Andrijashenko nutzt jede Bewegung, jede Körperwendung, um die Widersprüche dieser Figur zu zeigen – das Streben nach Größe und die Angst vor Verantwortung, den Drang zur Flucht und die Sehnsucht nach Nähe. Besonders berührend ist seine Begegnung mit der Figur der Solveig, getanzt von der feinen und ausdrucksstarken Martina Arduino. Ihre Pas de deux sind still, fast schwerelos – Momente der Wahrheit in einem Leben voller Täuschung.
Die Nebenfiguren sind in Ingers Ballett keine bloßen Episoden. Sie spiegeln Peers Innenwelt: Die Mutter Aase (dicht und ergreifend getanzt von Alessandra Vassallo), der groteske Trollkönig, die verführerische Anitra oder der unheimliche Knopfgießer – alle erscheinen wie Projektionen eines zerrissenen Geistes. Besonders stark: die Szene im letzten Akt, in der Peer seinem möglichen Vergessenwerden ins Auge blickt. Hier wird der Tanz zu einem existenziellen Ausdrucksmittel – zurückgenommen, fast nackt, nur noch Rhythmus und Atem.
Was Clugs Inszenierung so stark macht, ist der Verzicht auf sentimentale Glättung. Er zeigt einen Peer, der nicht geläutert, sondern erschöpft zurückkehrt. Die oft kitschig interpretierte Heimkehr zu Solveig wird in dieser Version zur offenen Wunde: kein Happy End, sondern ein Innehalten. Solveig wiegt ihn in den Armen, doch ihr Blick verrät Zweifel. Ist Vergebung möglich? Oder nur Trost in der Illusion?

Diese Peer Gynt-Produktion an der Scala ist kein klassisches Handlungsballett, sondern ein modernes Tanzdrama – intensiv, düster, poetisch. Sie fordert das Publikum, lässt Raum für Interpretation, aber schenkt auch starke emotionale Bilder. Der langanhaltende Applaus am Premierenabend galt nicht nur den Solist:innen, sondern auch dem Ensemble, dem Orchester und der klugen Gesamtgestaltung.
Fazit
Mit Edward Clugs Peer Gynt beweist die Scala einmal mehr, dass der Tanz das Potenzial hat, große Stoffe neu zu erzählen – jenseits von Worten, aber nicht jenseits von Bedeutung. Ein Abend, der nachhallt. Und einer der Höhepunkte der aktuellen Spielzeit.
Peer Gynt von Edward Clug
Choreografie: Edward Clug | Bühne: Marko Japelj | Kostüme: Leo Kulaš | Licht: Tomaž Premzl
Fotos: © Brescia and Amisano